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30. Januar 2020: „Ich will hier nützlich sein.“ Fachgespräch: Arbeit mit Vätern in Geflüchtetenfamilien

Fachdiskussionen
über die Integration von Geflüchteten und um ihre psychosozialen
Bedarfe haben meistens die Väter nicht im Blick – dabei gibt es
hier viel
Rede- und Handlungsbedarf
,
denn gerade die Situation
der Väter

ist oft durch traumatische Erfahrungen destabilisiert,
aber entscheidend

für die ganze Familie und ihr Leben in einer neuen Gesellschaft.

Am
11. Dezember 2019 habe ich zusammen mit meiner Fraktionskollegin
Marianne
Burkert-Eulitz
,
Sprecherin für Kinder, Familie und Bildung, und vielen Expert*innen
aus der Integrationsarbeit mit Männern diskutiert. Zentrale
Ergebnisse der Diskussion:

  • Das
    Potenzial von Ehrenamtlichen und Fachkräften mit
    Migrationshintergrund als „Brückenbauer“ muss viel mehr genutzt
    werden; dabei ist professionelle Supervision unverzichtbar, gerade
    Ehrenamtliche sollten nicht alleine gelassen werden.
  • Mehrsprachigkeit
    ist eine Qualifikation und sollte daher auch als solche behandelt
    werden. Folglich sollten auch Angebote der psychosozialen Beratung
    in der Muttersprache zugelassen sein, genau die Angebote, die
    muttersprachliche männliche Berater im Projekt haben, sind in der
    Versorgungsrealität erfolgreich.
  • Frauen-Empowerment
    speziell bei der Gruppe von Geflüchteten kommt nur voran, wenn auch
    Männer und Väter besser durch passgenaue Angebote erreicht werden.
  • Eine
    Studie zur Frage der Wahrnehmung kultureller Unterschiede in der
    Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft könnte zeigen, dass es
    Werteunterschiede gibt, diese aber eher graduell sind und auf dieser
    Ebene keineswegs totale Brüche zwischen den verschiedenen
    Gesellschaften bestehen.
  • Schwer
    zu erreichen sind allein reisende Väter, sie sind oft isoliert.

Prof.
Dr. Stephan Höyng
,
der eine Professur für Jungen- und Männerarbeit an der Katholischen
Hochschule für Sozialwesen Berlin innehat, stellt dar, dass laut
einer Studie zu Geflüchteten Männern in Deutschland diese Gruppe
besonders prekär ist; durch die Fluchterfahrung und das Erlebnis
fehlender Sozialkontakte und fehlender Selbstwirksamkeit sind
Männerbiographien oft von starken Brüchen geprägt. Damit
psychosoziale Beratung überhaupt erfolgreich greifen kann, müssten
erst die Strukturen verbessert werden, die den Weg
in eine eigene Wohnung und in den Arbeitsmarkt

ebnen. Aktuell werden aber durch Wohnungssuche, schleppende
Anerkennung von Berufsabschlüssen/ Ausbildungszeiten, Arbeitssuche
und Schwierigkeiten bei der Vaterschaftsanerkennung eher mehr als
weniger Belastungen produziert.

Mozafer Kabbar, Sozialarbeiter beim Träger Familie im Zentrum (EJF), unterstreicht die Wichtigkeit von menschlicher Begegnung. Bevor ein gegebenenfalls traumatisierter Mensch sich im psychologischen Beratungsgespräch verletzlich zeigen kann, braucht er die Erfahrung, einfach mal reden und Kaffee trinken, mal weinen und Mensch/Papa sein zu können. Gerade bei Vätern funktioniert der Zugang und auch die Vertrauensbildung meist sehr gut über die Kinder; dann, in einem zweiten Schritt, könne man sie ermutigen sich psychologische Hilfe zu holen. Gemeinsame Erlebnisse, wie etwa Ausflüge von geflüchteten Vätern und Vätern aus dem Prenzlauer Berg, helfen Kontakte in der Aufnahmegesellschaft zu knüpfen. Wie ein arabisches Sprichwort sagt: „Mit einer Hand kann man nicht klatschen.“

Laut
Dr. Ibrahim Alsayed
,
ehrenamtlich engagiert bei
Salam
e.V., gibt es mehrere grundlegende Hürden aufgrund derer Väter
schwerer in die Beratungsangebote finden: zum einen die
Sprachbarriere, zum anderen die Verantwortung für die ganze Familie
und schließlich Kulturunterschiede – die Beratungsstrukturen sind
einfach nicht bekannt aus dem Heimatland und für Männer ist es
grundsätzlich schwerer, Hilfe zu suchen. Ein guter Erstkontakt sind
daher Männercafés,
die einen geschützten
Rahmen

bieten, und dazu einladen in der Muttersprache, auch über schwierige
Themen wie etwa Ängste in Bezug auf den Aufenthaltsstatus zu
sprechen. Dort können verschiedene Themen wie gewaltfreie Erziehung,
Kochen, Heimweh etc. gesetzt werden.

Anja
Rosswinkel
,
Regionalkoordinatorin der Family Guides beim Träger Stützrad gGmbH,
berichtet, dass sie mit den Family
Guides

gute Erfahrungen in der Arbeit mit Vätern gemacht hat. Dabei handelt
es sich um Muttersprachler
aus den Herkunftsregionen
,
die nicht mit einem Problemfokus an die Menschen herantreten, sondern
individuell – wie ein*e gute*r Nachbar*in – in Kontakt kommen,
sie fungieren damit auch als „Brückenbauer*innen“, indem sie in
dem schwer durchschaubaren Hilfesystem mögliche Wege zeigen.

Eine
besondere Herausforderung bei der Arbeit mit geflüchteten Männern
ist, dass
Frauen
,
die hier nach der Flucht ankommen,
die Erfahrung von Empowerment
machen,
wohingegen
Männer
eine
Schwächung
durch
die Flucht erfahren. Das Rollenmodell vom Vater als Ernährer und von
der Mutter, die zuständig für die Erziehung ist, wird durch den
Bruch der Fluchterfahrung und den sozialen Abstieg durch
Arbeitslosigkeit stark irritiert. Oft sagen Frauen deshalb auch in
der Beratung, dass sie ohne das Wissen ihres Mannes kommen. Es ist
jedoch essenziell, dass das Frauen-Empowerment speziell bei der
Gruppe von Geflüchteten nur vorankommt, wenn auch Männer und Väter
besser durch passgenaue Angebote erreicht werden. Dabei kann eine
Hilfe sein, sich zu fragen, welche Anreize sich von Projekten mit
„deutschen“ Vätern gut übertragen lassen. Eine weitere Frage
sollte sein, wie mit der Ambivalenz umgegangen werden kann, dass auch
in den Familien der deutschen Mehrheitsgesellschaft das feministische
Ideal einer vollkommenen Gleichstellung zwischen Mann und Frau
keineswegs das Hauptmodell ist.

In
Bezug auf das Engagement
von Ehrenamtlichen

zeigen sich einige besondere Schwierigkeiten. Ein Problem ist, dass
sie oft nicht gut begleitet oder geschult sind. Die
Unterkunftsleitungen wiederum sind oft damit überfordert, wenn
Ehrenamtliche Missstände ansprechen wie etwa Fragen des
Kinderschutzes in Gemeinschaftsunterkünften. Oftmals haben
Ehrenamtliche den Anspruch an sich selbst, zu vermitteln was „unsere“
Kultur ist, zum Beispiel bezüglich der Gleichstellung von Männern
und Frauen – darin werden jedoch auch Widersprüche in der
deutschen Mehrheitsgesellschaft deutlich, denn Studien zeigen, dass
auch in Deutschland rund die Hälfte Maßnahmen zur
Geschlechtergleichstellung faktisch ablehnen. Ein weiterer Aspekt
ist, dass ehrenamtliches Engagement von Unterkunft zu Unterkunft sehr
unterschiedlich ist, Verstetigung passiert nur, wenn auch die
räumlichen Ressourcen für Angebote vorhanden sind.

Bei
den professionellen
Beratungsangeboten

sind verschiedene Aspekte wichtig:

  • Fahrtwege
    sind eine zentrale Hürde; Beratungsangebote in jedem Bezirk oder
    noch besser in den Unterkünften würden diese Hürde kleiner
    machen; aktuell
    geht mit der Einrichtung der zentralen Clearingstelle für
    Geflüchtete in Reinickendorf die Tendenz jedoch in eine andere
    Richtung. Aktuell
    müssen die Geflüchteten bei Wohnortwechsel von einem Bezirk zum
    anderen, z.B. von Neukölln nach Reinickendorf, auch das für sie
    zuständige Bezirksamt wechseln. So werden geknüpfte
    Vertrauensbeziehungen im bisher zuständigen Bezirksamt abgebrochen,
    Wissenstransfer findet nicht statt, und die Vertrauens- und
    Beziehungsarbeit am neu zuständigen Bezirksamt muss neu beginnen.
    Die Angebote sind erfolgreich, die männliche muttersprachliche
    Berater und migrantische Männer im Projekt haben.
  • Die
    Angebote müssen finanzfest verstetigt werden. Fehlende
    Unterstützung kann schwerwiegende Konsequenzen im Leben der Väter
    und ihrer Familien haben.
  • Wichtig
    ist der Eindruck von Augenhöhe bei der Beratung, da die Väter oft
    in einer hilflosen Situation sind, weil sie das System nicht
    verstehen oder etwa von den Kindern getrennt sind. Der Zugang
    funktioniert grundsätzlich eher über Ressourcen als über
    Defizite, z.B. über die Kinder, Essen oder Sport.

Forderungen
und weitere Schritte
,
die wir als Grünen-Fraktion verfolgen:

  • Das
    Regelsystem der psychologischen und psychosozialen Versorgung in
    Berlin ist noch nicht ausreichend ausgebaut, auch wenn der Senat
    teilweise diese Haltung einnimmt, wir wollen daher die weitere
    finanzielle Ausstattung im Gesundheitshaushalt kritisch begleiten.
  • Perspektivisch
    wollen wir ein Landesprogramm Videodolmetschen für die
    Sprachmittlung in der Gesundheits- und psychosozialen Versorgung im
    Haushalt verankern. Thüringen ist mit einem solchen Programm, das
    rund um die Uhr qualifizierte Sprachmittlung gewährleistet,
    beispielhaft vorangegangen.
  • Wir
    wollen das Familienfördergesetz für die Anforderungen einer
    Migrationsgesellschaft weiterentwickeln.