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17. September 2018: Integrationstag in Spandau: Integration heißt Zusammenhalt, Integration stärkt Zusammenhalt

Beim Integrationstag mit den Grünen in Spandau haben wir viele spannende Integrationsprojekte besucht – Orte und Menschen, die in einem immer pluraler werdenden Spandau Antworten auf drei Fragen bieten: Wie schaffen wir es neu ankommende Menschen schnell in unsere Gesellschaft reinzuholen? Wie sorgen wir, dass sie im System integriert bleiben, auch wenn sie nach der Erstaufnahme in Wohnungen leben? Wie erreichen wir die Menschen in unserer Gesellschaft, neu angekommen oder alteingesessen, die durch die Lücken im System fallen und für Integration verloren scheinen?

Willkommensklassen – Erfahrungen am Hans-Carossa-Gymnasium

Der erste Besuchstermin führt uns ins Hans-Carossa-Gymnasium in Gatow zu einer Gesprächsrunde mit dem Schulleiter über bedarfsgerechte Betreuung für Willkommensschüler*innen. An dieser Schule ist die Integration der Willkommensklassen in den Schulalltag vorbildlich gelungen – die Schüler*innen haben sich hier schnell wohl gefühlt und sich, trotz teilweise vorheriger Schuldistanz, schnell mit der Schule identifiziert und nächstes Jahr machen die ersten beiden Willkommensschüler*innen am Carossa-Gymnasium Abitur. Der Schulleiter Henning Rußbült unterstreicht, dass Wertschätzung und ein schnelles Einbinden in das tatsächliche Schulgeschehen ein Schlüssel für den Erfolg waren. So haben zum Beispiel die Willkommensschüler*innen ein Fest für alle Schüler*innen organisiert, damit sie nicht in der Dankesrolle bleiben müssen, sondern stattdessen ganz normal teilhaben können.

Natürlich gibt es Schulen, wo die Voraussetzungen schwieriger sind, die Ablenkungen der Stadt sind weit entfernt, das Carossa-Gymnasium liegt in einem Bildungsbürger*innen-Einzugsbereich und es gibt verhältnismäßig wenige Schüler*innen nichtdeutscher Herkunft. Die Schule hat sich aber ganz bewusst dafür entschieden, Willkommensklassen aufnehmen zu wollen, um auch ihren Teil beizutragen. In der Konsequenz hieß das dann: Die besten Lehrer*innen aus dem Kollegium in die Willkommensklassen – Lehrer*innen, die akzeptiert und gut vernetzt sind, teilweise selbst einen Fluchthintergrund haben und mehrsprachig sind. Ein eigens erarbeitetes Konzept, eine enge Betreuung, ein Patensystem und auch die Bereitschaft der anderen Schüler*innen – beispielsweise als es darum ging den eigenen Freizeitraum zur Verfügung zu stellen – führen dazu, dass die meisten Willkommensschüler*innen, die an der Schule bleiben, nach der 10. Klasse den MSA schaffen.

Egal wo, für die Akzeptanz von Schüler*innen und Eltern ist eine gute Kommunikation im Voraus unabdingbar. Integration, betont der Schulleiter, funktioniere nur, wenn alle zusammenhalten, dafür könne es helfen mal gedanklich in die andere Rolle zu schlüpfen und sich vorzustellen ein deutscher Schüler müsse plötzlich in der syrischen Gesellschaft bestehen. Und natürlich muss das Curriculum auf die Bedürfnisse der Willkommensschüler*innen zugeschnitten sein: Der Fokus liegt auf dem Spracherwerb, denn ein syrischer Schüler, der seit 2 Jahren in Deutschland ist, wird nicht Geschichtsunterricht am Gymnasium folgen können. Insofern sieht die Betreuung am Carossa-Gymnasium auch Begleitung bei Behördengängen, Bewerbungs-Trainings und Unterstützung bei der Lebensplanung vor.

Natürlich kommt es, bei allen Erfolgsgeschichten, auch zu Konflikten, Zusammenstöße zwischen Regeln in unserer deutschen und der Herkunftsgesellschaft sowie Traumatisierung, die oft erst zeitversetzt an die Oberfläche kommt, machen die Integration schwerer. Damit die Ressourcen dieser jungen Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt gehoben werden können, braucht es mehr Vertreter*innen nichtpädagogischer Berufe wie Mediziner*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen an Schulen. Eine wichtige Brücke könnten auch Kulturmittler*innen haben: Akteur*innen, die selbst Integrationserfahrung gemacht haben, so etwa Imame und Eltern oder Vertreter*innen aus der Bürgerplattform.

Für alle im Kiez: Begleitung für Familien

Das Angebot der Spandauer Familienbegleitung ist offen für alle Familien im Kiez, denn Menschen haben oft dieselben Probleme, wenn sie neu in ein Quartier kommen – egal ob aus Syrien oder Saarland. So wie an anderen Orten auch kommen hier natürlich aktuell viele syrische Kinder an, aber die Familienbegleiter*innen unterstützen alle dabei sich im Sozialraum besser zurecht zu finden. Die aktuelle Situation, in der in einem kurzen Zeitraum verhältnismäßig viele Geflüchtete in unsere Gesellschaft integriert werden müssen, verweist auf Herausforderungen, die unsere Gesellschaft schon lange hätte lösen müssen. Wie der Leiter Andreas Bodemann betont, sei das auch eine Chance: „Wenn wir es richtig anstellen, können wir langfristig etwas im Regelsystem ändern und stabile Brücken bauen.“

Nicht alle Familien brauchen immer gleich pädagische Hilfe, manchmal braucht es einen Wegweiser, wo die Hilfe, die im konkreten Fall benötigt wird, zu finden ist. Dorthin begleiten dann Sozialassistent*innen die Familie und öffnen so Türen zu Kitas, Beratungsstellen, aber auch ins Jugendamt. Das ist eine besondere Aufgabe, denn die Vorbehalte und Hürden sich Hilfe beim Jugendamt zu holen, sind sehr groß. Daher bietet die Familienbegleitung auch zwei Mal in der Woche eine Sprechstunde direkt im Jugendamt an.

Der Grundgedanke ist, bereits vor der Hilfe durch Behörden Lücken zu füllen und so Doppelstrukturen zu vermeiden. Das heißt, dass oft noch vor der Anwendung von Hilfen zur Erziehung die Hilfe zur Selbsthilfe bei den Eltern gestärkt wird, denn es gibt grundsätzlich genug Angebote, aber nicht immer finden die dorthin, die es brauchen. Auch wenn die Hauptprobleme meist die Suche nach einer familiengerechten Wohnung und nach einem Kitaplatz sind, gibt trotz des Hilfesystems immer wieder Fälle, in denen Menschen durch das Betreuungsnetz fallen, so wie Familien mit schwerst-/mehrfachbehinderten Kindern, für die die Eingliederungshilfe noch nicht zuständig ist und für die das Jugendamt kein Beratungsangebot hat oder der Fall eines 14-jährigen Jugendlichen, der jahrelang nicht zur Schule gegangen ist, ohne dass es jemand aufgefallen ist.

Eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit der Familienbegleiter*innen ist eine gute Vernetzung im Bezirk in verschiedenste Hilfs- und Betreuungseinrichtungen. Denn allein der persönliche Draht hilft oft schon, dass der Schritt in die Kita, um sich dort auf die Warteliste zu setzen, nicht mehr so groß erscheint.

Gemeinwesenarbeit im Brennpunkt: Das Medizinische Versorgungszentrum Staaken

Das MVZ in Staaken liegt in einem Kiez, der mit großen Herausforderungen zu kämpfen hat: Die Kinderarmut liegt hier bei 75 %, die Arbeitslosigkeit bei 40 %. Bestimmte Krankheiten oder gesundheitliche Probleme betreffen vor allem Menschen aus einkommensschwachen Familien; die notwendige Gesundheitsversorgung kann auch an mangelndem Wissen über Versorgungsstrukturen oder Sprachkenntnissen scheitern – und die finanzielle und soziale Situation ist ein sehr gesundheitsbelastender Faktor. Damit werden die Kinderärzt*innen und die Hebammen/Gynäkolog*innen in der Praxis täglich konfrontiert, denn viele Menschen vertrauen ihnen ihre Sorgen und Nöte jenseits der gesundheitlichen Probleme an.

Durch die Unterstützung der Grünen im Abgeordnetenhaus können seit August zwei Sozialarbeiterinnen über Mittel der Lottostiftung dort beschäftigt werden, die Anlaufstelle für die Eltern und ihre Kinder sind. Hier finden sie nun vermittelnde Hilfe und Beratung bei Schuldnerberatung, Suchthilfe, Kulturaustausch, Integration, Behördengängen, Antragsstellung und vieles mehr. Wie auch bei der Familienbegleitung berichten die Sozialarbeiter*innen, dass den Menschen zu Behörden und Ämtern oft das Vertrauen fehle – die Praxis dagegen sei ein idealer Ort, da der Vertrauensvorschuss durch den ärztlichen Kontakt bereits sehr viele Hemmungen und Ängste abbaue.

Hier, in der ambulanten Versorgung, ist eine wichtige Schnittstelle zur Sozialberatung, die Modell sein könnte für ganz Berlin. Die Probleme, mit denen die Menschen hier kämpfen sind Bildungsferne, Kinderbetreuung, Job- und Wohnungssuche. Die größte Sorge vieler geflüchteter Frauen ist der fehlende Kitaplatz. In diesem Fall ist das besonders bitte, denn auch wenn die Männer teilweise schon in den Arbeitsmarkt integriert sind, können sie ohne Kinderbetreuung nicht zum Sprachkurs gehen oder arbeiten, obwohl sie unbedingt wollen. Eine Elterninitiative, in der die Frauen miteinander vernetzt werden und die Kinder in einem rotierenden System betreut werden, könnte kurzfristig Abhilfe schaffen.

Bei der täglichen Arbeit ist die Sprachbarriere ein wesentliches Hindernis. Oft sollen die Kinder übersetzen, dabei wäre ein gut funktionierendes Dolmetschersystem für die fünf wichtigsten Sprachen notwendig. Hier muss dringend aufgestockt werden: Leistungen für Dolmetscher*innen mit Spezialqualifikation für Gesundheit und Psychotherapie müssen vom Land finanziert werden.