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30. April 2020: Kinderschutz in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete - schwierige Bedingungen während Corona-Restriktionen

Kinderschutz, der unter den aktuellen Bedingungen einer Pandemie besondere Dringlichkeit bekommt, muss weiter gewährleistet bleiben. Aus diesem Grund habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Marianne Burkert-Eulitz (MdA, Bündnis90/Die Grünen) am 16. April 2020 das dritte Fachgespräch aus der Reihe „Psychosoziale Versorgung von geflüchteten Kindern und ihren Familien“ diesmal im Lichte des Kinderschutzes in Gemeinschaftsunterkünften als Videokonferenz abgehalten.

Mit dabei waren Akteur*innen, die Kinderschutz aus verschiedenen Perspektiven bearbeiten: Koordination Gemeinschaftsunterkünfte, Kinderschutzbeauftragte, Familienberatung, Verwaltung, Sozialarbeiter*innen und medizinische Versorgung.

Natürlich flossen in das Gespräch immer wieder Aspekte der gegenwärtigen Situation unter den Bedingungen des Corona-Shutdowns und der aktuellen Kontaktsperren mit ein. Welche Ziele wollen wir langfristig für den Kinderschutz in den Gemeinschaftseinrichtungen formulieren? Welche Maßnahmen können kurzfristig in den Einrichtungen zur Erleichterung der Situation in den Familien initiiert werden?

Tabuthema Kinderschutz

Angst ist ein bestimmendes Problem in den Familien. Angst vor dem Virus, aber auch vor eventuellen Verstößen gegen Auflagen und damit zusammenhängende Strafen. Viele Familien gehen nicht raus und lassen auch ihre Kinder nicht nach draußen. Durch die beengte räumliche Situation potenzieren sich eventuell schon bestehende Problemlagen in den Familien, werden aber gleichzeitig noch weniger sichtbar. Die Mitarbeiter*inne der Einrichtungen, des Jugendamts oder die Sozialarbeiter*innen der Familienberatung haben noch weniger Einblick in den psychischen und physischen Gesundheitszustand der Kinder, als ohnehin schon, unter „nicht-Corona-Bedingungen“. Denn Kinderschutz ist ein Tabuthema. Prekäre Situationen in Familien oder Erziehungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten werden meistens verschwiegen. Geflüchtete Familien vermeiden besonders aufzufallen. Es müssen Brücken geschaffen werden, um wieder Einblicke in die Familiensituationen und den Alltag der Kinder zu bekommen.

Diese Brücken entstehen nur durch den direkten Kontakt. Telefonisch wird dieser zum Beispiel über SprInt ermöglicht (https://www.sprint-berlin.de/). Hierbei wird das Gespräch zwischen der Familie und der Vertrauensperson (Sozialarbeiter*in o.ä.) mithilfe einer/eines Dolmetscher*in geführt. Diese Telefonschaltung ist aktuell kostenlos für den Gesundheitsbereich freigeschaltet. Es wird von sehr engagierten Mitarbeiter*innen bei SprInt berichtet, die sprachliche Kompetenz ist in den Telefonterminen sehr wertvoll und häufig unabdingbar. Die Forderung in unserem Fachgespräch war, dass dieser Service auch anderen Bereichen wie z.B. dem Jugendbereich kostenlos zur Verfügung stehen sollte. So kann zumindest über Telefon die wichtige Beziehungsarbeit für den Kinderschutz ermöglicht werden. Hauptsächlich erreicht man dadurch aber Familien, zu denen bereits Beziehungen und Vertrauen bestehen. Das Ziel ist, unbedingt auch die Familien zu erreichen, die sich bisher noch nicht im Versorgungsnetz befinden. Dafür müssen kurzfristig Strategien entwickelt werden, wie z.B. Flyeraktionen mit Hinweisen auf Unterstützungsangebote in verschiedenen Sprachen.

Ein positiver Effekt der aktuellen Situation ist, dass durch die aktuelle Isolation auch mehr Ruhe in den Familienalltag einziehen kann, weil viele Wege für die Anerkennung im Asylverfahren, Gänge zu Ämtern nicht gemacht werden können. Insbesondere Väter können nun Zeit mit ihren Familien verbringen und haben die Möglichkeit für gemeinsame Spiele mit den Kindern.

Es ist allerdings fraglich, ob wirklich der größte Teil der Familien erreicht und die Situation der Kinder in den Unterkünften ausreichend dokumentiert wird. Bisher steigen die gemeldeten Kinderschutzfälle nicht signifikant an. Aber wie hoch die Dunkelziffer ist, mag noch niemand prognostizieren.

Kinderschutz ist Vertrauensarbeit – Mehr Personal für lückenlose Versorgung

Um eine flächendeckende Versorgung der Familien mit entsprechenden Angeboten der Sozialarbeit zu gewährleisten, braucht es ausreichend Ressourcen. Die mangelhafte Personalausstattung in den Jugendämtern und bei den Trägern stellt nicht erst jetzt ein Problem dar, verschärft sich aber in der Krisensituation. Auf 300 Bewohner*innen in einer Unterkunft kommen 1,5 Sozialpädagog*innen-Stellen. Unter den Bedingungen einer Kontaktsperre müssen neue Strategien der Kommunikation und Angebote erarbeitet und angewandt werden. Damit sind Ressourcen schnell aufgebraucht. Die Aufstockung der personellen Mittel ist das wichtigste Anliegen der Expert*innen – auch über die Corona-Zeit hinaus.

Denn Arbeit im Bereich des Kinderschutzes beruht auf einem Vertrauensverhältnis, das zu Familien und ihren Kindern hergestellt werden muss. Dieses Vertrauen wird nur über Personalkonstanz erreicht. Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen und eine attraktive Bezahlung – nur so kann der gegenwärtigen Personalfluktuation und damit immer wieder zusammenbrechenden Vertrauensbeziehungen entgegengewirkt werden.

Politik ist gefragt zu handeln.

Themen, die wir mitnehmen sind:

  • Wie kann die bisher gut funktionierende Sprachmittlung im Gesundheitsbereich auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden?
  • Wie kann insbesondere in Corona-Zeiten die Beschulung der Kinder in den Gemeinschaftsunterkünften funktionieren?
  • Wie können die Lockerungen der Eindämmungsverordnung, die am 21.04.2020 beschlossen werden, den direkten Zugang zu den geflüchteten Kindern und ihren Familien in den Gemeinschaftsunterkünften erleichtern?
  • Wie kann eine nachhaltige Vernetzung der geflüchteten Kinder mit ihren Familien in der Nachbarschaft aussehen?

Wir werden uns weiter engagieren – um in diesem Bereich Verbesserungen und damit Vertrauen und Transparenz zu erwirken. Familienarbeit ist Beziehungsarbeit. Und die Maßnahmen des Kinderschutzes sind Maßnahmen für unsere Gesellschaft und für unsere direkte Zukunft.

Nachtrag, 4.5.2020:

Dank der Empfehlungen während des Fachgesprächs konnten wir schon einige Verbesserungen bewirken:

  • So schreibt das LAF (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten) nun alle Jugendämter an und bietet an den Sprachmittlungsservice des LAF kostenfrei zu nutzen. Dieser hat sich für die proaktive Kommunikation mit Familien in den Unterkünften bewährt.
  • Weiterhin hat sich die wöchentliche Runde der bezirklichen Flüchtlingskoordinator*innen mit der Senatsverwaltung Integration/Arbeit/Soziales am Montag, 27.04.2020 mit dem Thema Kinderschutz und Sprachmittlung befasst. Die Flüchtlingskoordinator*innen werden sowohl die Unterkunftsbetreiber als auch die Ehrenamtskoordination und BENN-Projekte in den Bezirken danach fragen, ob es weiteren Bedarf nach Sprachmittlung für die Arbeit mit Kindern und Familien in den Unterkünften gibt. Träger, die Bedarf haben, sollten daher schnellstmöglich auf die entsprechenden Stellen im Bezirk zugehen und Bedarf anmelden.
  • Das Berliner Netzwerk für besonders Schutzbedürftige BNS, das gemeinsam mit dem Berliner “Zentrum Überleben” die psychosoziale Betreuung von Geflüchteten in der zentralen Quarantäne-Unterkunft übernommen hat, bietet auch in anderen Unterkünften psychosoziale Beratung an und macht bei Bedarf auch Vor-Ort-Termine.