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2. November 2015: Offener Brief an den Familienbund der Katholiken

Als Beiratsmitglieder des Familienbundes der Katholiken haben sich Bettina Jarsch, Mitglied des Bundesvorstands und Landesvorsitzende Berlin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und Karin Jurczyk, Abteilungsleiterin Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts, mit einem Offenen Brief an den katholischen Verband gewandt.

Anlass ist die Sonderausgabe der Zeitung „familienbunt“ des Familienbundes der Katholiken im Bistum Augsburg vom Sommer 2015. Jarasch und Jurczyk kritisieren insbesondere die Verunglimpfung von berufstätigen Eltern und frühkindlicher Betreuung sowie die Frauen-, Fremden- und Homosexuellenfeindlichkeit, die in zentralen Texten des Heftes geäußert wird: „Das Konglomerat von manchen richtigen Fragen, einigen halbrichtigen und vielen falschen, aber jedenfalls in der Verquickung höchst tendenziösen Behauptungen machen die Positionen dieses Heftes nachgerade gefährlich“. Eine Familienpolitik, die an traditionellen Geschlechterbildern und der einen „richtigen“ Normalfamilie festhalte, missachte nicht nur die, die heute Familien lebten, sie sei auch zum Scheitern verurteilt, heißt es unter anderem in dem Offenen Brief.

Der Offene Brief an den Familienbund im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren,

gerne haben wir, Bettina Jarasch und Karin Jurczyk, uns gegenüber dem Familienbund der Katholiken auf dessen Anfrage hin bereit erklärt, unser Wissen und unsere politische Einschätzung für den Beirat des Familienbunds zur Verfügung zu stellen. Uns sind die Anliegen von Familien, Frauen, Männern, Kindern und all denen, die sich als Familie verstehen, sehr wichtig. Allerdings sind wir davon überzeugt, dass Familien nur dann nachhaltig unterstützt werden können, wenn man ihre gewandelten Lebensrealitäten und Einstellungen ernst nimmt und akzeptiert. Eine Familienpolitik, die an traditionellen Geschlechterbildern und der einen „richtigen“ Normalfamilie festhält, missachtet nicht nur die, die heute Familien leben, sie ist auch zum Scheitern verurteilt.

Wir sehen es deshalb gerade in unserer sichtbaren Funktion, in die wir von Ihnen berufen wurden, und vor unserem jeweiligen professionellen Hintergrund als notwendig an, unserer Kritik gegenüber Äußerungen und Veröffentlichungen von Teilen des Familienbundes öffentlich Ausdruck zu geben. Wir beziehen uns hierbei vor allem auf die Sonderausgabe von „familienbunt“, Juli 2015, verantwortet vom Bistum Augsburg. Zwei Artikel möchten wir exemplarisch herausgreifen, weil sie ein Familienbild zeichnen, das heutigen Familien weder gerecht wird noch sie unterstützt. Von zwei weiteren distanzieren wir uns ausdrücklich, weil sie diffamierend und diskriminierend sind.

1) Im Artikel „Was Familien brauchen“ wird zu Recht hervorgehoben, dass Familien nicht der Wirtschaft dienen sollten, sondern umgekehrt. Der Rest der Argumentation ist schräg bis falsch. Der Text entwirft nicht nur ein falsches Bild von den Rahmenbedingungen von Familien in Deutschland, sondern zeichnet zudem ein so idealisiertes Bild von Familie, dass die allermeisten Familien demgegenüber mit ihren ganz konkreten Problemen als defizitär und gescheitert erscheinen.

Die Argumentation beginnt mit der Behauptung, dass die Einkindfamilie vorherrsche und führt zur falschen Verquickung von hoher Steuerpflicht und zu wenig Platz für die Familie. So ist in etlichen skandinavischen Ländern die Besteuerung deutlich höher, die Familienfreundlichkeit einschließlich der Kinderzahl aber eben auch. Und die monetäre Familienpolitik Frankreichs als uneingeschränkt positiv zu beschreiben, übersieht, dass dort die Lebenslagen von Familien extrem polarisiert sind und die armen Familien in Frankreich wirklich sehr arm sind. Dass die Müttererwerbstätigkeit zudem relativ hoch ist im Nachbarland, scheint die Argumentation hier nicht zu beeinträchtigen.

Das ganze wird unterlegt mit dem Bild von Familie als „unzerzaustem Nest“. Auch wenn es in den letzten Jahren viele Belege gibt für ein zunehmend gutes Familienklima zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen den Geschlechtern, ist doch allen, die Familie leben, durchaus bewusst, dass ihr Alltag recht zerzaust ist und von Konflikten durchzogen. Von den vielen Trennungen sowie den markanten Kindeswohlgefährdungen, die glücklicherweise nur für eine Minderheit zutreffen, mal ganz abgesehen. Die Zeichnung eines so harmonistischen Bildes wird der Realität von Familien nicht gerecht, es hindert sie vielmehr daran, mit ihren ganz normalen Konflikten konstruktiv umzugehen, Unterschiede in den Interessen anzuerkennen und Machtungleichgewichte zwischen den Familienmitgliedern zu kritisieren.

2) Im Artikel „Who must be crazy for it“ wird auf äußerst fahrlässige Weise Bindung gegen Bildung ausgespielt und damit der jahrzehntealte Kulturkampf gegen frühkindliche Betreuung fortgesetzt. Niemand wird bezweifeln, dass schlechte Betreuung Kindern schaden kann, insbesondere den Kleinen. „Schlecht“ kann aber sowohl mangelnde Feinfühligkeit, Vernachlässigung und Gewalt von Eltern bedeuten wie zu lange außerhäusliche Betreuung mit wechselndem Personal. Gute und verlässliche Bindung ist ohne jeden Zweifel entscheidend für eine gelingende Entwicklung von Kindern. Dafür braucht es hinreichend Zeit von Eltern für ihre Kinder, gerade auch, aber nicht nur, wenn die Kinder klein sind. Weil wir beide um diesen Zusammenhang wissen, setzen wir uns politisch dafür ein, dass Eltern künftig stärker selbst entscheiden können, wann sie arbeiten und wann sie Zeit für ihre Kinder brauchen.

Allerdings ist das kein Argument gegen eine gute zusätzliche Kinderbetreuung auch schon in den ersten Jahren. Noch weniger sind für Bindung ausschließlich die Mütter zuständig. Gibt es in den im Artikel skizzierten Familien überhaupt Väter? Wieso werden sie so ignoriert, trotz aller eigenen Wünsche der meisten jungen Väter, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen? Uns scheint, dass hier das Bindungsargument benutzt wird, um am Bild der „guten Mutter“ festzuhalten, die sich in den ersten Jahren ausschließlich um ihre Kinder zu kümmern hat. Zeit mit den Eltern allein ist aber kein Garant dafür, dass es Kindern gut geht und sie sich entfalten können. Zeit und Qualität im Umgang mit Kindern sind wichtig, das schließt aber eben auch ein, dass Eltern und ihren Kindern ein förderliches Umfeld geboten wird. Es geht also nicht um Bindung statt Bildung, sondern immer um beides – gleich ob zu Hause oder in der Kita bzw. Krippe. Das ist keine neue Erkenntnis, aber die Autoren des Textes haben sich mit dem aktuellen Stand der Forschung offenbar nicht beschäftigt oder nicht beschäftigen wollen.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Vorschlag der Anerkennung des Berufs Mutter absurd. Seit Jahr und Tag fordern wir die Anerkennung und Aufwertung von Sorgearbeit (z.B. Kinder erziehen, Kinder betreuen), aber eben auch für Väter, für Erzieherinnen und Erzieher – für alle, die sie verrichten, ob privat oder beruflich. Was wollen Sie mit einem solchen Artikel eigentlich den zumindest 70 % der Frauen sagen, die sich beides wünschen, Beruf und Familie und nicht Beruf oder Familie? Und ist den Herausgebern entgangen, dass heute aufgrund der drastisch gestiegenen Lebenserwartung aktive Mutterschaft nur noch einen geringen Anteil in der Lebensspanne von Frauen ausmacht? Was machen die Frauen ihrer Vorstellung nach, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Wie stellen sie sich die beruflichen Anschlussmöglichkeiten, die Lohnniveaus und vor allem die soziale Sicherung und die Vermeidung von Altersarmut dieser Frauen vor? Haben sie dabei die hohen Trennungs- und Scheidungsraten im Blick?

Wer Mütter stärken will, macht ihnen kein schlechtes Gewissen, sondern unterstützt sie konkret. Wir halten es fachlich für dringend geboten, sehr genau, d.h. empirisch fundiert hinzugucken, welche Betreuung Kindern gut tut und welche nicht, statt ideologische und rückwärtsgewandte Positionen zu vertreten.

3) Ausdrücklich distanzieren wollen wir uns von den beiden Artikeln „Heldenhafte Spermien und wach geküsste Eizellen“ und „Diktatur durch Verwirrung“. Beide Texte dienen dazu, vermeintliche Verirrungen von der vermeintlich „richtigen“ Ordnung der Geschlechter innerhalb und außerhalb der Familie wieder gerade zu rücken. Beim ersten Artikel geht es um eine Kritik des baden-württembergischen Bildungsplanentwurfs 2015, welcher – längst überfällig – Gendersensibilität auch in die schulischen Lehrpläne hineintragen wollte. Der Artikel nutzt jedoch das Thema zur pauschalen Diffamierung der wissenschaftlichen Disziplin der Gender Studies (einschließlich der hier tätigen Forscher und Forscherinnen) und lässt hierfür die längst widerlegte Gegenüberstellung von Umwelt und Biologie als Einflussfaktoren auf Geschlechtlichkeit wiederaufleben.

Der zweite Artikel behauptet die Ehe als „natürliche Gegebenheit“, die Mann und Frau für die Zeugung von Kindern vorbehalten sei. Somit sei die „Homo-Ehe“ widernatürlich und in der Konsequenz auch schädlich für Kinder, zum Beispiel dadurch, dass diesen „das Recht auf ihre biologische Abstammung genommen“ oder aber „das Inzestverbot ausgehöhlt und aufgehoben werde“. Hierfür dienen wechselweise das nicht näher ausgeführte Argument der „Natürlichkeit“ sowie jenes, dass solche Entwicklungen „wider die Vernunft“ seien. Hier wird mit abstrusen Argumenten „Natur“ gegen die „Verwirrungen“ der Moderne gestellt, um so die „Ordnung“ der traditionellen Familie und Geschlechterverhältnisse wiederherzustellen. In den Artikeln werden aber nicht nur Menschen und wissenschaftliche Denkrichtungen verunglimpft und ein echter Diskurs über diese Themen verhindert, sondern die Autoren richten sich auch gegen verbriefte Rechte, die unser Grundgesetz jedem Menschen garantiert sowie gegen Positionen des Bundesverfassungsgerichts. In diesen Texten verbinden sich Frauen-, Fremden- und Homosexuellenfeindlichkeit aufs Übelste.

Das Konglomerat von manchen richtigen Fragen, einigen halbrichtigen und vielen falschen, aber jedenfalls in der Verquickung höchst tendenziösen Behauptungen machen die Positionen dieses Heftes nachgerade gefährlich. Sie führen keinesfalls zu einer zukunftsweisenden Familienpolitik, die wir vertreten können und die auf dem Stand von Wissenschaft und Forschung ist.

In diesem Sinne möchten wir uns ausdrücklich von Positionen distanzieren, wie sie im genannten Heft des Familienbundes vertreten werden. Wenn Familie in der Gesellschaft Zukunft haben soll, muss man das anders anpacken! Wir stehen mit unseren fachlichen wie politischen Kompetenzen gern bereit, den Familienbund gerade auch in solchen Fragen zu beraten, wie sie in der Publikation aus Augsburg aufgeworfen werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Karin Jurczyk

Bettina Jarasch

PDF-Version des Offenen Briefes