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4. Dezember 2017: Grüne Integrationspolitik ist inklusiv- Rede beim Landesparteitag

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde –

Der Sommer 15 ist vergangen. Willkommenskultur ist kein Medienereignis mehr, sondern dort, wo sie weiterlebt, zäher und Ausdauer erfordernder Alltag. Der LaGeSo-Skandal gehört hoffentlich ein für alle Mal der Vergangenheit an, die Turnhallen sind freigezogen, MUFs werden nach und nach bezogen, wenn auch bei weitem nicht schnell und viele genug.

Wo stehen wir also? Ich würde sagen: Erst am Anfang eines langen Weges, der mühsam ist und wo wir an allen Hindernissen und Gabelungen Gefahr laufen, Menschen zu verlieren. Aber wir können auf diesem Weg auch unsere Gesellschaft verändern, wir können sie durchlässiger, erfindungsreicher, solidarischer machen und Potentiale entdecken, die bislang ungenutzt waren.

Es gibt Menschen in Berlin, die sich nicht nur abgehängt fühlen, sondern die abgehängt sind. Rechtspopulisten nutzen das, um die Gesellschaft zu spalten. Geflüchtete dienen ihnen dabei als Feindbild und Projektionsfläche für Ängste vor Konkurrenz, vor Verdrängung, vor einer für sie beunruhigenden Veränderung der Welt. – Wir werden diesen Spaltern nicht das Feld überlassen. Wir überlassen ihnen auch nicht die Menschen, die abgehängt sind. Auch deshalb ist Integrationspolitik für uns ein zentrales Zukunftsthema. Ob der gesellschaftliche Zusammenhalt stärker oder schwächer wird, hängt ganz entscheidend davon ab, wie wir die Integration der Menschen angehen, die vor Verfolgung oder Bürgerkrieg zu uns geflohen sind.

Unsere grüne Integrationspolitik ist inklusiv: Wir wollen bestehende Angebote für Geflüchtete öffnen, aber wir nehmen zugleich andere Gruppen in den Blick, die oft ähnliche Probleme haben: Wohnungslose und Menschen, die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können, Langzeitarbeitslose mit Kompetenzen, aber ohne Qualifikationen, Kinder mit Migrationshintergrund, deren Mutter- oder auch Vatersprache bislang nie als Bereicherung, sondern als Hindernis gesehen wurde, Jugendliche ohne Schulabschluss.

Gerade an den Übergängen geht es darum, Brüche zu vermeiden. Das gilt insbesondere für den Übergang von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ins Erwachsenenalter. Angebote der Jugendhilfe wie betreutes Wohnen dürfen nicht nach dem 18. Geburtstag aprupt enden. Ich bin stolz darauf, dass es uns gelungen ist, in den Haushaltsberatungen das Netzwerk Vormundschaften massiv aufzustocken. Freie Träger wie Xenion und die Caritas suchen und bilden hier gemeinsam ehrenamtliche Vormünder aus, die ihre erwachsen gewordenen Schützlinge oft auch als Patinnen und Paten weiter begleiten. Und wir haben Mittel für 16 dezentrale Lerngruppen für junge Geflüchtete erkämpft, die aus ihrer Heimat zu wenig Schulbildung mitgebracht haben, um in Regelklassen einen Schulabschluss zu erreichen. Das Projekt greift auf die guten Erfahrungen mit produktivem Lernen zurück und kann auch für viele hier geborene Jugendliche mit schulischen Problemen ein Weg in die Ausbildung werden.

Das verschulte Sprachkurssystem des BAMF gehört dringend überarbeitet. Es braucht mehr modularisierte Angebote, denn es bringt nichts, Akademiker*innen und Analphabet*innen in denselben Kurs zu setzen. Da man Sprache am besten in der Praxis lernt, wollen wir das Angebot an berufsbezogenen Sprachkursen ausbauen und dabei in Zusammenarbeit mit den OSZ mehr spezifische Angebote für Mangelberufe in Berlin machen. Beschäftigungsbewilligungen sollte künftig die Bundesagentur für Arbeit erteilen dürfen anstelle des BAMF. Und wir brauchen ein Ausbildungs-Bleiberecht anstatt einer Ausbildungs-Duldung.

Integration hat aber auch eine kulturelle Dimension.

Ich möchte Euch einen Auszug aus einem Brief vorlesen, den ich im Wahlkampf im Sommer bekommen habe. Er stammt von einer Gruppe von Integrationslotsen, die in Spandau arbeiten: „Wir erstellen meistens unter schwierigen, belastenden und stressigen Situationen eine gelingende Sprachkommunikation zwischen beispielsweise Behörde und Betroffenen, indem wir meistens nicht das Gesagte Wort für Wort dolmetschen, sondern vielmehr den Kontext in seinen soziokulturellen Dimensionen deuten und erklären. Dazu gibt es viel Erklärungsbedarf bezüglich der Erziehung und Kultur der Betroffenen im Vergleich zur deutschen Gesellschaft, und das ist meistens ein ganz entscheidender Faktor der entstehenden Missverständnisse. Integrationslots*innen in ihrer Vielfalt sind nicht nur Sprachmittler, sondern vielmehr Kulturmittler.“

Viele Geflüchtete kommen aus Ländern, in denen es gefährlich ist, seine politische Meinung offen zu sagen, seine sexuelle Orientierung zu zeigen oder die falsche Religion zu haben. Sie freuen sich über die Freiheit, die sie hier vorfinden. Gleichzeitig haben sie ein dringendes Bedürfnis nach Orientierung. Dabei geht es um unsere Rechtsordnung, die für alle verbindlich ist. Aber es geht auch um die Werte einer pluralen, demokratischen Gesellschaft, die mehr sind als bloß die nackten Paragrafen des Grundgesetzes. Diese Werte erfüllen die Paragrafen mit Leben. Und es geht darum, die vielen ungeschriebenen Regeln und Gewohnheiten zu kennen, die unseren Alltag prägen, auch wenn sie uns oft selbst gar nicht bewusst sind. Niemand muss diese Art von ungeschriebenen Regeln der Alltagskultur beachten. Aber sie zu kennen macht es sehr viel leichter, hier anzukommen und sich zurechtzufinden.



Kultur ist nichts Festes, es gibt regionale und sogar lokale Kulturen, Kultur verändert sich. Aus der Vielfalt der in Deutschland gelebten Kulturen eine für alle verbindliche Leitkultur basteln zu wollen, ist ein absurdes Unterfangen, das der CDU/CSU deshalb auch nie gelungen ist. Dennoch gibt es kulturelle Besonderheiten, die uns prägen – und das können uns gerade die Menschen zeigen, die neu in unser Land kommen: „Was ist deutsch?“ hat der rot-rot-grüne Senat in seiner Kampagne „Farben bekennen“ jene Geflüchtete gefragt, die die Kampagne portraitiert. Die Antworten: „Respekt, Freiheit, Chancen, Pünktlich sein, sich an Regeln halten“.

((Ok, im Blick auf die Pünktlichkeit muss ich bekennen, dass ich dann offenbar zu einer Subkultur gehöre, die anders geprägt ist.))

Weil diese kulturelle Dimension das Ankommen und Teilhaben erleichtert, gehört sie an den Anfang! Die Integrationskurse des BAMF müssen nicht nur endlich für alle geöffnet werden, unabhängig von der Bleibeperspektive. Sie müssen vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Orientierung ab Tag eins bedeutet: noch in der Herkunftssprache, und nicht am Ende eines eineinhalbjährigen Kurses. Vorbildlich dafür ist das Projekt „Willlkommen im Rechtsstaat“ des grünen Justizsenats. Richter*innen und Anwält*innen gehen gemeinsam mit Dolmetscher*innen in Schulen und Volkshochschulen, aber auch in Erstaufnahmeeinrichtungen, und diskutieren mit den Geflüchteten über unsere Rechts- und Werteordnung, über Gleichstellung und über das Recht auf faire Verfahren.

Die eigentlichen Kulturmittler*innen sind jedoch die Menschen, denen Geflüchtete in ihrem Alltag begegnen, sie wollen wir stärken. Deshalb wollen wir ein Berufsbild für Integrationslots*innen und Bildungsberater*innen entwickeln. Es kann nicht sein, dass so verantwortungsvolle Aufgaben gering qualifizierte und schlecht bezahlte Tätigkeiten bleiben.

Eine wichtige Brückenfunktion haben die zahlreichen Migrantenorganisationen und Moscheevereine in Berlin. Ihre Expertise wollen wir stärker als bisher nutzen und dafür auch ihre Angebote mit denen der Verwaltung besser verzahnen. Dazu braucht es eine Öffnung in den Verwaltungen für ehrenamtliches Engagement, aber auch eine gute Verweisberatung, denn gerade niedrigschwellige Angebote kann der Staat oft gar nicht bieten.

Kultur ist immer ein wechselseitiger Lernprozess und das kann auch zu Konflikten führen. Gerade die Berliner Schulen sind häufig überfordert beim Umgang mit interkulturellen, aber vor allem auch religiös konnotierten Konflikten. Das dringt manchmal spektakulär an die Öffentlichkeit wie im Antisemitismus-Fall an der Gemeinschaftsschule Friedenau. Wir bekommen das aber auch immer wieder in Gesprächen an Schulen und mit Lehrkräften zu hören. Wir müssen Schulen in die Lage versetzen, mit solchen Konflikten umzugehen. Deshalb haben wir Gelder für spezifische Fortbildungen der Lehrkräfte bereitgestellt und die Stelle der Antidiskriminierungsbeauftragten in der Bildungsverwaltung jetzt fest verankert.

Das ist der richtige Weg. Falsch ist es dagegen, solche Probleme am Kopftuch von Lehrerinnen festzumachen. – Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auch des Landesarbeitsgerichts ist ein pauschales Verbot des Kopftuchs nicht mit der Religionsfreiheit der Lehrerinnen vereinbar. Deshalb gehört das Berliner Neutralitätsgesetz auf den Prüfstand: Niemand darf wegen Religion diskriminiert und zugleich dürfen niemandem religiöse Vorstellungen aufgezwungen werden. Das zu gewährleisten ist der Sinn des staatlichen Neutralitätsgebots. Was wir brauchen, sind Regeln, die religiöse Manipulation ahnden, anstatt einen Kulturkampf über das Kopftuch zu führen. – Um das ganz klar zu sagen: Ich möchte, dass es Lehrerinnen mit Kopftuch an Berliner Schulen geben kann. Und ich erwarte zugleich von allen Lehrerinnen und Lehrern, dass sie die Religionsfreiheit von Mädchen verteidigen, die kein Kopftuch tragen wollen! Ich freue mich auf eine lösungsorientierte Debatte, die sich an den Erfordernissen von Schule ausrichtet.

Ich danke dem Landesvorstand, dass ich diesen Leitantrag einbringen durfte und bitte Euch um Eure Unterstützung für diesen Antrag.

Vielen Dank.