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4. Mai 2016: Freiheit und Pluralität

Es ist der Freiheitsgedanke, der unseren Abschlussbericht zum Verhältnis Religion, Weltanschauung und Staat trägt. Wir verstehen Religionspolitik als Politik für Freiheit und Pluralität. Deshalb ist für uns die Verwirklichung der Religions- und Glaubensfreiheit in allen ihren drei Dimensionen maßgeblich: als individuelle Freiheit zum Glauben ebenso wie als Freiheit vom Glauben und als kollektive Freiheit, den gemeinsamen Glauben öffentlich und sichtbar zu leben. Meine Replik auf einen „Verriss“ erschien in der Christ und Welt, Ausgabe 20/2016.

http://www.christundwelt.de/detail/artikel/wir-stehen-fuer-pluralitaet/

Wir stehen für Pluralität

Was genau hat Hans Michael Heinig an dem Bericht der grünen Kommission zu Religionsgemeinschaften, Weltanschauungen und Staat eigentlich so empört? Der Bericht sei »illiberal« und »paternalistisch«, propagiere eine »relativistische Leitkultur«, tue sich mit dem Wesen von Religion schwer und sei daher nicht in der Lage, mit den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft umzugehen. Das sind Vorwürfe, die uns als eine libertäre Partei hart treffen müssten – wenn sie denn zuträfen. Tatsächlich teilt der Heinig unsere Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen und fordert als Konsequenz Positionen ein, die er im Text finden würde, wenn ihn nicht so offensichtlich etwas anderes umgetrieben und am gründlichen Lesen gehindert hätte.

Heinigs Vorwurf, der Bericht sei Ausdruck von Illiberalität, weise ich entschieden zurück. Es ist gerade der Freiheitsgedanke, der unseren Bericht trägt. Wir verstehen Religionspolitik als Politik für Freiheit und Pluralität. Deshalb ist für uns die Verwirklichung der Religions- und Glaubensfreiheit in allen ihren drei Dimensionen maßgeblich: als individuelle Freiheit zum Glauben ebenso wie als Freiheit vom Glauben und als kollektive Freiheit, den gemeinsamen Glauben öffentlich und sichtbar zu leben.

Heinig glaubt nun, mit dieser kollektiven Dimension von Religion als einer »organisierten Differenz« hätten wir Grünen ein Problem. Dabei gehört das Aushalten von Differenzen zum Wesen von Pluralität. Es geht nicht darum, Unterschiede zu relativieren oder zu nivellieren, sondern um die Suche nach einem gemeinsamen Grund trotz aller Unterschiede. Und genau das hat die Kommission geleistet: Der Bericht ist das Ergebnis einer Suche von Menschen mit und ohne Religion nach einem gemeinsamen Grund. Und schafft dadurch das Fundament für eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft.

Das gelingt uns genau durch den Umstand, den Heinig uns ebenfalls meint vorwerfen zu müssen: Wir seien eine »gespaltene Partei«, weil sich bei uns laizistische und moderat kirchenfreundliche Positionen gegenüberstünden. Nein, gespalten sind wir nicht – aber (fast) so heterogen, wie die Gesellschaft es mittlerweile ist. Grüne sind Christen, Juden, Muslime, Aleviten und noch mehr, mit all ihren unterschiedlichen Ausprägungen, wir sind Säkulare, Laizisten, Agnostiker, Konfessionsfreie, Humanisten.

Bei uns sind also auch jene Menschen, die Heinig als »Gottlose« bezeichnet, als Menschen, die »dem Trend zum Säkularen erlegen« seien – und mit denen er offenbar wenig anzufangen weiß. Umso mehr könnte er sich darüber freuen, dass wir uns in einer solch heterogen zusammengesetzten Kommission dafür entschieden haben, das kooperative Modell weiterzuentwickeln, das Religionen und Weltanschauungen in Deutschland in den öffentlichen Diskurs hineinholt, indem Theologie bei uns an den Hochschulen und Religionsunterricht an den Schulen stattfindet.

Denn wir halten dieses Modell für geeignet, die große Herausforderung für plurale Gesellschaften in Zeiten von religiös begründetem Terrorismus zu beantworten: Welchen Rahmen muss ein Staat setzen, damit Religionen und Weltanschauungen Zusammenhalt und Identität stiften können und zugleich ihre gewalttätigen, fundamentalistischen Potenziale gezähmt werden?

Die Kommission hat sich aber nicht nur die Aufgabe gestellt, Antworten auf die wachsende Vielfalt an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland zu geben, sondern auch die Belange nicht konfessionsgebundener Menschen stärker zu berücksichtigen, die immerhin inzwischen 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das hat bislang noch keine Partei getan, und auch wir verstehen viele der Forderungen vor allem als Anstoß für eine überfällige gesellschaftspolitische Debatte denn als endgültige Antworten. »Verquer«, wie Hans Michael Heinig diese Forderungen betitelt, sind sie allerdings keineswegs. Es stünde den in den Parlamenten vertretenen Parteien gut an, bei der Besetzung von Rundfunk- und Fernsehräten neben den Kirchen auch weitere gesellschaftlich relevante Gruppen ins Boot zu holen. Friedhofsmonopole, wie es sie im ländlichen Raum noch gibt, sind selbstverständlich ein Problem für alle, die ihre Angehörigen nicht christlich bestatten lassen wollen. Die Lockerung von Tanzverboten an den sogenannten Stillen Tagen oder eine Gestaltung öffentlicher Gedenkveranstaltungen, von der sich auch nicht konfessionsgebundene Menschen angesprochen fühlen – alles Vorschläge, über die man ohne Schaum vor dem Mund diskutieren können sollte.

Der wahre Grund für Heinigs Empörung sind, so zeigt es sich gegen Ende seines »Verrisses«, offenbar die Reformvorschläge für das kirchliche Arbeitsrecht. Wir halten das Streikrecht für vereinbar mit dem kirchlichen »Dritten Weg«, und wir wollen insbesondere im Blick auf die katholische Kirche die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken, deren private Lebensführung ja nach wie vor zum Kündigungsgrund werden kann. Für Heinig ist das der Beleg dafür, dass die Grünen mit Antidiskriminierungsregelungen jetzt auch noch ins religiöse Feld hineinregieren wollen, ohne auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht Rücksicht zu nehmen.

Aber jedes Freiheitsrecht kann in den Freiheitsrechten der anderen seine Grenzen finden, keines gilt unbeschränkt, das weiß auch Heinig. Unsere Vorschläge sorgen dafür, dass dieser Ausgleich zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, das wir anerkennen, und den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig fair stattfinden kann und nicht zugunsten der Arbeitgeber vorentschieden ist, wie es mit der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung allerdings der Fall ist.

Heinig selbst hat früher einmal gesagt, dass die Begründungslast zunehmend bei denjenigen liege, die trotz veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse am religionspolitischen Status quo festhalten wollten – und hat den Kirchen nahegelegt, diesen Erwartungsdruck zum Anlass zu nehmen, über manche eigene Ansprüche und Begehrlichkeiten nachzudenken. Mit seinem Verriss erweist er sich jetzt selbst als Besitzstandswahrer, der alle konkreten Reformvorschläge abwehrt, ohne selbst andere zu machen.

Für Bündnis 90/Die Grünen gilt: Wir werden die Religionsfreiheit in all ihren Dimensionen immer verteidigen, unabhängig davon, ob uns die jeweiligen Glaubensinhalte gefallen oder nicht. Wir wissen: Gerade ein neutraler Staat, der seinen Bürgern keine Werte vorschreibt, braucht Orte, an denen Werte geteilt werden. Wir stehen für eine Gesellschaft, in der religiöse, weltanschauliche und kulturelle Pluralität gelebt werden kann und in der zugleich Religionskritik jederzeit möglich ist. Wir sind als Partei angetreten, um erstarrte Strukturen aufzubrechen: Für den unhinterfragten Erhalt des Status quo stehen wir nicht zur Verfügung.

Bettina Jarasch ist Mitglied des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen und Leiterin der parteiinternen Kommission Religionsgemeinschaften, Weltanschauungen und Staat, die vor -einigen Wochen ihren Abschlussbericht -vorgelegt hat. Die Autorin ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken.